Das Gute und das Schöne

«Wenn wir Gemäldeausstellungen besuchten, so nahmen wir immer das betreffende Zeitungsblatt dorthin mit, um die Kritik an Ort und Stelle noch einmal durchzulesen, aus Furcht vor falscher oder ungenügender Bewunderung.»

André Gide, 1921

«Die Frage nach dem Grund, gar dem letzten, die Frage nach dem, was das Seiende wirklich ist, die Frage nach dem Warum bleibt letztlich eine naive Frage, die sich aus einer Kindheit her anweist, in der der Vater noch Fragen zu beantworten schien und damit Geborgenheit und Sicherheit verhieß. Daher müsste sich eine rationale wie eine religiöse Begründungsbemühung des Ethischen auf die politische Macht stützen ...»

Hans-Martin Schönherr-Mann, 1997

Wieder ist die hohe Zeit der Ethik- und Ästhetikbeschwörungen. Zwar haben die universalen Ideen des Guten und des Schönen an Glanz eingebüßt, doch das philosophische Misstrauen scheint den Glauben an die magische Kraft des Appells, doch der höheren Werte zu gedenken, nicht gebrochen zu haben. Vor allem Wirtschaftsethik wird zelebriert, in einer Flut von Geschriebenem, Vorträgen und Kursen für das höhere Management (und für die Shareholder?), wie wenn damit Krankheiten des Systems zu heilen wären. Alles wird moralisiert: Profitstreben, Umweltverschmutzung, die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich, der egoistische Individualismus ... Rücksichtsvoller müssten eben alle werden, ihren Kindern und Kindeskindern eine bessere Welt oder zumindest noch ein paar lebenswichtige Ressourcen hinterlassen. Früher kam man dafür wenigstens in den Himmel. Selbst versierte Anhänger wirtschaftsliberaler Parteien klagen die Rücksichtslosigkeit gerissener Finanzjongleure an, allerdings mit dem durchaus rationalen und pragmatischen Argument, dadurch Wählerstimmen an die Sozialdemokraten zu verlieren.

Zünden wir ein paar Kerzen an, denn die Ethik ist tot, und die Gespenster, welche unter diesem Namen  heute noch herumspuken, kennen sich selber nicht und wissen nicht, woher sie kommen. Ethik soll das Zusammenleben regulieren, gewiss eine respektable Bestimmung; doch der Begriff kaschiert verschämt (nach dem Sexualtabu, das Machttabu?), welches die wirklichen universellen Regulative von Gemeinschaft und Gesellschaft sind: Leidenschaft und Macht.

Und was sind die allgemeinen Kriterien der Ästhetik? Wer solche braucht, der kann sich mit einigem gesellschaftlichen Erfolg an das obige Zitat von André Gide halten. Die darin beschriebene Methode ist von zeitloser und universeller Gültigkeit.

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Nur Leidenschaft schafft Werte

Die tatsächlich existierenden Werturteile in der Vergangenheit und Gegenwart sind ursprünglich Erzeugnisse der Leidenschaften Einzelner. Die sichtbare Übereinstimmung vieler Werturteile innerhalb verschiedener kultureller Einflussbereiche ist zuerst einmal eine Anpassungsleistung in der naturgeschichtlichen Entwicklung des menschlichen Gehirns, in Wechselwirkung mit den natürlichen Lebensbedingungen, und, darauf aufbauend, eine persönliche Anpassung der Einzelnen im Verlauf ihrer individuellen Entwicklungsgeschichte. Die leidenschaftlichen Bedürfnisse nach Geborgensein, Geltung, Selbstgefühl, Macht und entsprechender Orientierung stehen wohl am Anfang der Reihe von Faktoren, welche diese Anpassung steuern. Diese Anpassungsbedürfnisse haben sich mit dem Informationsangebot und den Machtverhältnissen in Familie und Gesellschaft auseinanderzusetzen.

Leidenschaften sind nicht einfach «Natur» und nicht gleichzusetzen mit den angeborenen Affekten, sondern vielfach kulturell vermittelt. Erst im Wechselspiel zwischen den Bedürfnissen des einzelnen Menschen und seiner maßgebenden Umwelt entsteht die innere Verknüpfung der kulturell vorgegebenen Werte mit der privaten Welt der Leidenschaften. Die in den Kulturgeschichten der Menschheit aufscheinenden Wertsysteme sind gleichsam zu Formeln geronnene Schöpfungen der Auseinandersetzung zwischen den Bedürfnissen der Individuen und denen der Gesellschaft. Natürlich gibt es bereits biologische Vorgaben, welche die Trends zu bestimmten Wertungen universell beeinflussen: die physiologischen Voraussetzungen der sinnlichen Wahrnehmung zum Beispiel. Das gilt sogar für die letzten Grundlagen des logischen Denkens, welche durch die Gehirnstruktur vorgegeben sind. Außerdem entwickeln kulturelle Systeme im Verlauf der Geschichte auch eine gewisse Eigengesetzlichkeit.

Wie geschichtlich komplex vermittelt die gesellschaftlichen Wertsysteme auch immer sind, vom Standpunkt der Würde der Einzelnen aus gesehen, kommt die einzig verbindliche Autorität der Werte dem Zusammenspiel von Leidenschaft und Skepsis jedes einzelnen Individuums zu. Werte, jenseits der Leidenschaften Einzelner, sind falsche Münzen.

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Die Werte der Gesellschaft

Mit keinem Wort sollen hier all die Bemühungen um Anliegen, die heute «Menschenrechte» und «Menschenwürde» genannt werden, verunglimpft werden; auch die Kultur der Würde der Einzelnen ist dadurch reicher geworden. Es ist lediglich von großem Vorteil die Grundfrage der sogenannten Ethik: «Was sollen wir tun?» nicht als Frage nach «dem Guten», sondern als Frage nach den Machtverhältnissen zu stellen. «Was wollen wir tun?» und «wie verhelfen wir unseren Wünschen zur Macht?» sind realistische Fragen. Die Legitimität der herrschenden Moral ist stets die Legitimität der Siegermacht. Das war schon die geschichtliche Realität vor Machiavelli und wird auch in aller Zukunft so bleiben, wie wohlmeinend ängstliche Intellektuelle das immer verklären mögen. Erst wenn wir unsere Unschuld verlieren, beginnen wir zu leben.

Ein Plädoyer für den schrankenlosen Egoismus und das Machtstreben der Einzelnen? Gott behüte! «Homo homini lupus», die armen verkannten Wölfe! Nicht Begierden und Machtstreben Einzelner begründen das Wesen der Macht, sondern die unausweichlichen Systeme ihres gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenwirkens. Darin besteht die Paradoxie der Verteidigung der Würde der Einzelnen: Sie bedarf der gesellschaftlichen Macht. Gesellschaftliche Macht aber ist immer Herrschaft über die Einzelnen. Daran ändert kein Anarchismus der Welt auch nur das Geringste.


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