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Die fantastische Arroganz der Moralisten

Ich schätze Arroganz durchaus, wenn sie in meinen Augen Stil hat. Stilvoll kann sie aber nur dann sein, wenn die Überheblichkeit von der eigenen Größe der Leidenschaft und Skepsis meiner Position beseelt ist. Die fantastische Überheblichkeit der piepsenden Maus auf dem Rücken eines Elefanten ist nur lächerlich.

Moral ist ein Set von zwischenmenschlichen Spielregeln, welche durch die psychologische Macht des Kollektivs Verbindlichkeit erlangt hat. Die kulturellen, gesellschaftlichen und innerseelischen Vernetzungen der psychologischen Macht sind vielgestaltig und komplex. Die Spielregeln für den Fußball sind übersichtlicher, wo ein Foul gepfiffen wird, ein Penalty verhängt, einem Spieler die gelbe oder rote Karte gezeigt; trotzdem wecken selbst die gefällten oder ausgebliebenen Entscheide erfahrener Schiedsrichter bei den unterschiedlichen Parteien in unterschiedlichstem Maße leidenschaftliche Kritik, Proteste und gewalttätige Krawalle. Denn der Sinn steht nach Sieg; und gerecht ist die Auslegung der Spielregeln, welche nicht zum Nachteil unserer Mannschaft interpretiert werden.

Die Elefanten sind die kulturgeschichtlich überlieferten Sitten, Gebräuche und Institutionen gesellschaftlicher Machtgebilde, die etablierten Religionen vor allen und die Herrschaft der Traditionen, der Stämme, der Völker, der Familien. Moralisches Verhalten ist nicht einfach das Befolgen aufgezwungener Spielregeln, sondern die Auswirkung eines geistig-seelischen Programms tief in mir drin, verinnerlichte Erfahrungen von frühester Kindheit auf, Erfahrungen, wann mir Verlust von familiärer Geborgenheit droht, das Ausgestoßenwerden aus dem bergenden Rahmen der Gemeinschaft (das zu verhindern ist der evolutionäre Sinn der Schamanfälligkeit), aber ebenso Erfahrungen der Lust am Aufgehobensein im Kollektiv, Erleben von Macht, wie von eigenem Mitgefühl.

Die Macht der herrschenden Moral ist eine Mischung aus dem Bedürfnis nach zuverlässiger Orientierung und Psychoterror, äußerlich und innerlich, bewusst und unbewusst. Zuverlässig kann meine Orientierung aber nur sein, wenn ich mich darauf verlassen kann, dass sich auch die anderen an mein vertrautes Spielregel-Set halten. Diese Logik ist aber bereits die Logik meines Machtanspruchs. Wenn die ältere Schwester, beim Mühle-Spiel in Bedrängnis geraten, plötzlich die Spielregeln ändert, empfindet die Jüngere das ungerecht und kann nur über die Machtinstanz der Mutter durchsetzen, dass die vertrauten Spielregeln gelten müssen – oder sie wirft in ohnmächtiger Wut das Spielbrett um.

Eine jede gesellschaftliche Moral ist ein Machtanspruch. Das Spektrum der Macht einer herrschenden Gesellschaftsordnung erstreckt sich von sanktionierter Gewaltanwendung bei Verstößen gegen die moralischen Spielregeln, über die gesellschaftliche Ächtung bis zu dem durch eine entsprechende Erziehung verinnerlichten moralischen Gewissen. Dabei sind die psychosozialen Machtfaktoren weitaus wichtiger und wirksamer als bloße äußere Drohungen mit Gewaltmaßnahmen. Die verinnerlichten gesellschaftlichen Spielregeln bilden auch ein bald eigengesetzlich wirksames Steuerungssystem für das persönliche Verhalten und die geistig-seelische Informationsverarbeitung. Sich aus dieser ursprünglichen Unmündigkeit, der Unschuld des Kindes, zu emanzipieren, ist schwerer, als Kant, von der Aufklärung beeindruckt, einst gedacht.

Die begrifflich verhängnisvolle Einengung des Machtbegriffs als ein Böses verstellt die klare Sicht auf den untrennbaren Zusammenhang zwischen Moral und Macht. Die Absolutheitsansprüche der Religionen lassen leicht und gewollt die Willkür einer jeden Moral übersehen und verdrängen. Eine Verdrängung, die auch manchen Moralphilosophen nie bewusst geworden ist. Trotz aller Skepsis gibt es nach wie vor Versuche, Ethik außerhalb machtpolitischer Zusammenhänge und Willensbekundungen absolut zu begründen. O vanitas!

Wenn ich hier von Moralisten spreche, dann meine ich damit die Prediger-Attitüde, welche das Verhalten anderer in einer Weise wertet, die wähnt, sich auf gottgegebene oder sonstige absolute Maßstäbe stützen zu können und damit jenseits willkürlicher Machtausübung einen überlegenen Standpunkt einzunehmen. Darin besteht das Fantastische des Moralisten, dass er die komplexe Realität der Machtverhältnisse sowohl in ihren geschichtlichen als auch gegenwärtigen und strategischen Zusammenhängen ignoriert.

«Macht ist schmutzig, Moral tut Not», piepst die Maus vom Elefanten runter. Doch Moralisten, die sich zu gut sind, im Schmutz zu waten, sind allenfalls schöngeistige Fantasten – die Welt verbessern sie nicht. Denn wirksame Moral ist ebenso oft schmutzig, wie wirkliche Macht. Verbindliche Spielregeln überzeugen nicht nur, geben nicht nur Geborgenheit und Halt, sie vergewaltigen auch.

Moral ist Wille zur Macht. Wille zur nachhaltigen Macht, die dauerhafte Beachtung gewisser Spielregeln durchzusetzen, die mir gesellschaftspolitisch wichtig erscheinen. Das war seit jeher die gesellschaftspolitische Realität. Die Behauptungen, gewisse moralische Forderungen seien der Wille Gottes, sind bereits Machtinstrumente, welche helfen, über die innerpsychische Wirkung des Glaubens beim Einzelnen die Verbindlichkeit der Spielregeln zu festigen.

Moderner, wenn auch schon in der griechischen Antike angelegt, ist das Postulat einer natürlichen Ethik (als Grund eines Naturrechtes). Anstelle der Gottesvorstellung (oder neben ihr, wie es die Lehre der katholischen Kirche will) wird der Begriff „Natur“ vergöttlicht. So manche Philosophen bemühen sich zu verschleiern, dass die Postulate, was uns die „Natur“ gebiete, allen selbst gesundheitspolitischen Argumenten zum Trotz, willkürlich sind und willkürlich bleiben. In all meiner Lust zu lieben, ist das Gebot zur Liebe eine schöngeistige Kreation, gleich der Metapher von der Lust (oder auch der Geborgenheit), die Ewigkeit will.

Zur einseitigen Lobpreisung der Vernunft gehört wohl auch das fragwürdige Konstrukt des „freien Willens“, gleichsam der CEO meines moralischen Wirtschaftens. Ohne ihn kämen die Priester der Gerechtigkeit in Verlegenheit, wen sie für meine Entscheidungen verantwortlich erklären sollten. Und was sein muss, ist auch. Nun, mein Wille ist tatsächlich, was immer seine biologischen und informationsverarbeitenden Zusammenhänge sein mögen. Da ist es müßig, ihn mit einem so schwammigen Begriff wie den der Freiheit zu traktieren. Willkür herrscht, wo Wille greift. Moral, wo sie herrscht, ist gebändigte Willkür, gebändigt durch die vorläufige Verlässlichkeit bestimmter Machtverhältnisse. Selbst in der Fußballindustrie. Die schlimmste Sanktion ist der Ausschluss aus dem großen Zirkus der Spiele.

Heute ist es üblich, dass die Minister westlicher Demokratien auf ihren Geschäftsreisen in gewisse Diktaturen am Rande auch „die Menschenrechte ansprechen“. Das sind sie dem moralischen Eifer gewisser ihrer eigenen Landsleute schuldig und vor allem ihrem Ruf in den Medien, für welche die Ausschlachtung der Themen der Moral und vor allem der Unmoral wirtschaftlich lebenswichtig sind. Wer weiß wirklich, was geschähe, wenn z.B. die Volksrepublik China die westliche Form der Demokratie zulassen, den Religionen freien Lauf gewähren würde? Könnte uns das wirklich freuen? Klar, dass jede Sekte glaubt, ihre Weltherrschaft würde das Heil bringen. Immer wieder sollen Vorschläge zu moralisch inspirierten waghalsigen gesellschaftspolitischen Experimenten die mühsame und schmutzige Suche nach pragmatischen Wegen desavouieren.

Der Hinweis auf die Willkür einer jeden Moral ist tabu. Nur die Gegner unserer durch die Aufklärung säkular geprägten Gesellschaftsordnungen zeihen die Verfechter der Universalität der Menschenrechte des Imperialismus. Was diese dann zu widerlegen bestrebt sind. Dabei stimmt es doch. Die Menschenrechte weltweit durchsetzen zu wollen, ist ebenso Wille zur Macht wie der Kampf um das multikulturelle Gegenteil. Alle sollen sich diesen Spielregeln beugen – oder sie werden, soweit die Macht reicht, vom internationalen Strafgerichtshof eingefangen und abgeurteilt.

Für aufgeklärte Ohren tönt das alles ganz selbstverständlich. Gerechtigkeit muss sein und an Gerechtigkeit herrscht weltweit und vor allem in den wirtschaftlichen Verhältnissen der größte Mangel. Gerechtigkeit ist eine zentrale Forderung vieler Moralsysteme.

Was ist Gerechtigkeit? In seiner ursprünglichen Bedeutung verweist „Gerechtigkeit“ auf die Übereinstimmung des Handelns von Personen oder gesellschaftlicher Machtverhältnisse mit herkömmlichen, geltenden Bräuchen, allgemein geltenden Moralvorstellungen oder der in einer Gesellschaft geltenden Rechtsordnung.
Gottgewollt? Sicherlich! Im Alten Testament z.B. heißt Gerechtigkeit Sein und Wandeln in Gottes Recht. Gott ist gerecht, insofern er klare Vorschriften macht, auf die Verlass ist; das ist die Bundestreue Gottes, die auch strafen kann; Rechtschaffenheit, Frömmigkeit ist ein Lebenswandel nach Gottes Geboten. Die Gerechtigkeit von Christus besteht darin, dass er alles, was ihm von Gott zur Erfüllung des Buchstabens des Gesetzes auferlegt war, erfüllt hat. An die Stelle von Gott tritt später der Rechtsstaat.
Paulus hat der neutestamentlichen Gerechtigkeitsvorstellung eine interessante Wendung gegeben. Gott schafft neue Gerechtigkeit durch Erlösung von der Sünde und Gnade für die Gläubigen; ihr Glaube rechtfertigt sie. (Das erinnert mich an den Versuch moderner Staaten durch eine Steueramnestie eine neue Ausgangslage für Gerechtigkeit zu schaffen; wenn sie’s zugeben [glauben], werden die Steuersünder begnadigt.) Damit unterscheidet sich die Gerechtigkeit Gottes von der des Menschen aus den Werken des Gesetzes, d.h. die höchste Instanz [höherer] Gerechtigkeit, ist die, welche Amnestien anordnen kann. Die Willkür der Moral ist die Willkür Gottes, des eigentlichen Souveräns.
In der heutigen Schweiz ist dieser Souverän die Mehrheit der Abstimmenden, die ja oder nein sagen, in manchen Fällen noch zusätzlich die Mehrheit der Kantone mit der entsprechenden Mehrheit der Stimmen. Doch Willkür bleibt Willkür, auch wenn die Unterschiede, wie die Willkür zustande kommt, durchaus gravierend sind.

In späteren Zeiten hat sich die Bedeutung des Begriffs der Gerechtigkeit in vielerlei Weise gewandelt. Heute denken wir dabei meist an die Verteilungsgerechtigkeit von Gütern. Dass wenige Menschen im Luxus leben können und die meisten in Hunger und Elend darben müssen, empfinden wir als ungerecht. Unser spontanes Mitgefühl und Einfühlungsvermögen, soweit es in uns lebt, nimmt Anstoß daran. Die meisten empfinden es auch als unmoralisch, wenn die Manager der großen Wirtschaftsunternehmungen nach kurzem Wirken riesige Geldsummen abkassieren, von denen der kleine Mann und die einfache Frau nicht einmal zu träumen wagen. Ob das wirtschaftlich sinnvoll ist, ist eine andere Frage.

Trotz den damit verbundenen spontanen Gefühlen bleibt ein jedes moralische Urteil willkürlich. Nur der Glaube an die Wirklichkeit eines göttlichen Souveräns oder die Illusion einer durch die Natur vorgegebenen idealen Lebensordnung vermag diese Realität zu vertuschen. Moral ist Wille zur Macht oder sie bleibt ein schöngeistiges Hobby, eitles Geschwätz. Es gibt Machtverhältnisse, die ich begrüße, erkämpfenswert finde und Machtverhältnisse, die ich verabscheue und bekämpfenswert finde. Den Zwang zur gesellschaftspolitischen Gleichbehandlung von Männern und Frauen z.B. möchte ich weltweit verwirklicht sehen – das ist hierzulande trivial. Weniger trivial ist der Wunsch, dass in allen Gesellschaften Religion zur Privatsache erklärt werden müsste und Anders- oder Nichtgläubige nicht mit bestimmten religiösen Moralvorschriften belästigt werden dürften. Die in einer Gesellschaftsordnung allgemeinverbindlichen Spielregeln müssten auf einem rein weltlichen Minimalkonsens beruhen; und dieser wird – machen wir uns da keine Illusionen – immer wieder neu erkämpft werden müssen.

Es geht in moralischen Belangen nicht ums Schönreden, sondern um Machtkämpfe. Dass diese auch in üble Kriege ausarten können, ist bekannt. Aber gerade dadurch unterscheidet sich der realistische moralische Machtwille von der fantastischen Arroganz der Moralisten, dass er die Notwendigkeit eigenen Machtdenkens nicht verdrängt, dass er Machtverhältnisse realistisch einzuschätzen versucht in strategischem und taktischem Kalkül – und nicht einfach vom Rücken des Elefanten der moralischen Tradition seine edle Gesinnung, den Mut zur Ethik oder den Tadel an den schmutzigen Machtpolitikern herunterpiepst.

Ob der Zweck die Mittel heilige, wird vom Moralisten schnell verneint. Du sollst dir auch beim Bau des Hauses die Hände nicht schmutzig machen, sonst lastet ein ewiger Fluch auf deinem Werk und du wirst die Geister, die du gerufen hast, nicht mehr los. Das ist schön gesagt, doch kaum realistisch durchdacht und in keiner Weise glaubhaft bewiesen. Die Menschheitsgeschichte jedenfalls ist anders verlaufen. Weniger schön, weniger heilig – heilig waren nur die rituellen Deklarationen. Doch aus allem Schmutz und Dreck und Blut und allen Tränen sind gelegentlich längerlebige Häuser erstanden. Dann wurden auch sie wieder in Schutt und Asche gelegt. Wurden neu gebaut. Wurden wieder zerstört. Keine Mittel sind heilig, aber auch keine Zwecke. Es geht nicht um Heiligkeit, sondern um kluge Bewegungen in den real herrschenden Machtverhältnissen. Alles andere ist moralistische Augenwischerei.

Mein Wille greift, wo ich schlau genug bin und möglichst weitsichtig. Wo ich die Absichten und Stärken und Schwächen des Feindes gut ausspioniere. Wo ich die richtigen Bündnisse schließe. Wo ich klug kämpfe. Wo es mir gelingt, die Anderen vom Vorteil meiner Spielregeln zu überzeugen – vielleicht auch umgekehrt. Wenn ich vom Willen sprechen, weiß ich jedoch zugleich von der Macht der Verhältnisse, von den wirtschaftspolitischen, aber auch religionspolitischen und ideologischen Systemen, vom Aspekt meines Rädchenseins, das sich nicht dreht, wie es will, sondern gedreht wird von der Weltmaschine, die da läuft, wie sie halt läuft. Meine Position in der Weltgeschichte ist auch zufällig, nicht frei gewählt.

Dieser Widerspruch ist auszuhalten. Wenn ich Moral als Wille zur Macht beschreibe, so meine ich damit keinen Voluntarismus, der den Willen zum Motor des Weltgeschehens stilisiert. Doch Erkenntnis ist stets Begegnung in und mit Perspektiven. Die Widersprüche ergeben sich aus den unterschiedlichen Methoden und Filtern der Fokussierung – so wie bei den verschiedenen Aussagen über die Teilchen- oder Wellennatur des Lichtes. Hier geht es um die Perspektive der Moral, um die Frage der zwischenmenschlichen, gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Spielregeln des Verkehrs untereinander. Um die Polemik gegen die Moralistenmaus auf dem Rücken des Elefanten von sittlicher Tradition und (relativ) stabilen rechtsstaatlichen Verhältnissen.

Warum es mir nicht auf dem Rücken des Elefanten wohl sein lassen? Solange er im rauen Klima noch überlebt. Aber dann fände ich es stilvoller, weniger kitschig, weniger populistisch, einfach gemütlich zu schweigen – si tacuisse … Denn die fantastische Arroganz ist eine fantastische Ignoranz. Was will ich da den Moralclown spielen. Auf diesen Applaus verzichte ich gerne.

antonio cho

© skeptic line™
Dezember 2005