Die westliche Lebensform muss sich wieder in Erinnerung rufen:
Sie hat Feinde.
Das wollen wir verwöhnten Kinder des Westens nicht wahrhaben.

Rüdiger Safansky, NZZ 8.11.2015

Toleranz
von antonio cho (verfasst im September 2001)

In diesen Zeiten der aktualisierten Angst vor dem Weltbrand, wird hierzulande wieder vermehrt die Ermahnung zur Toleranz laut. Häufig wird der Begriff idealisiert, unkritisch und moralisch gebraucht. Die folgende Definition ist nicht als ethisches, sondern als gesellschaftspolitisches und machtpolitisches Postulat zu verstehen. Wenn hier von Toleranz die Rede ist, dann ist ausschließlich die Haltung der Gemeinschaft gegenüber dem Eigensein des Einzelnen gemeint. Nämlich Toleranz als Forderung des Einzelnen an die Gemeinschaft, seinem Anspruch auf Eigensein Raum zu gewähren. Als moralische Forderung an die Einstellungen und Gefühle des Einzelnen muss der Toleranzbegriff jedoch abgelehnt werden. Liebe, Hass, Gleichgültigkeit, Zuneigung und Abscheu, Gemeinsinn, Hilfsbereitschaft, Versöhnungs- und Rachebedürfnisse gehören allein mir, denn einzig ich selbst bin die letzte Instanz meiner eigenen Werte.

Toleranz ist nicht nur vorübergehende Gesinnung, wie weiland Goethe meinte. Sie ist vielmehr die Conditio sine qua non jedes Gemeinwesens, welches sich die Verfassung gegeben hat, den Anspruch auf Wahrung der Würde des Einzelnen anzuerkennen. In der Verteidigung dieser Würde muss jeder zu dieser Forderung in Widerspruch stehenden Verfassung und jeder kollektiv verbindlich erklärten Ideologie mit kampfbereiter Intoleranz begegnet werden. Wer das verschläft, zu faul dazu ist oder unwillig, hat das vor sich selbst zu verantworten. Es liegt in meiner eigenen Kompetenz zu entscheiden, ob ich zu solcher Anstrengung bereit bin oder nicht. Wie der Kampf geführt werden kann, ist eine Frage der realen Machtverhältnisse. Klugheit ist gefragt, auch soziale Klugheit, aber nicht ethischer Diskurs.

Philosophische und theologische Spitzfindigkeiten zu diesem Thema dienen lediglich der Schwächung der Position der Einzelnen gegenüber den kollektivistischen Übergriffen und werden außerdem zu willkommenen Instrumenten der psychologischen Kriegführung totalitärer Gegner. Toleranz ist kein himmlisches Ideal, sondern nur eine andauernd neu zu erkämpfende Machtposition all jener, welche sich dieses gemeinsamen Anliegens jeweils annehmen wollen. Der Kampf um die undiskutable Durchsetzung der Toleranz in der gesellschaftlichen Verfassung ist durchaus anmaßend gegenüber seinen Feinden, denn es geht um Machtkonstellationen. Doch die Arroganz der Frömmigkeit des totalitären Glaubens, welcher im Namen höherer Ideale den Anspruch der Einzelnen auf ihr Eigensein negiert, ja verteufelt, bleibt unübertroffen. All seine Rituale verkünden diese Arroganz in den Symbolen der Unterwerfung der Einzelnen unter die Majestät des Allgemeinen.

Die Gemeinschaft ist die gebärende und nährende Mutter und zugleich die feindliche Unterdrückerin des Eigenseins. Der Philosoph mag dieses Verhältnis dialektisch nennen. Der Widerspruch jedoch bleibt bestehen, welche Gesellschaftsordnung auch immer herrschen möge und selbst die anarchistische Utopie würde ihn niemals auflösen. Dazu braucht es keine anthropologischen Streitereien über die Natur des Menschen. Als nährende und schützende Mutter vergrößert die Gemeinschaft die Macht des Einzelnen, aber eben gerade dadurch, dass sie als effizientes System mächtiger ist, als er allein. Das System existiert schon in der Mutter-Kind-Beziehung, in der Familie, im Clan. Es gehört aber zur Natur jedes Systems, dass es sich als Ganzes seine Teile unterordnet. Gelingt das nicht, zerfällt es. Dieser Widerspruch bleibt unser ewiges Schicksal. Außer in verliebten und philosophischen Phantasien gibt es keine Versöhnung auf höherer Ebene. Darum bedarf es zur Verteidigung der Würde der Einzelnen einer realistischen Einschätzung der notwendigen und möglichen eigenen Machtpositionen.

Der gemeinschaftsbedingte, jede Gesellschaft durchziehende Widerspruch zwischen Schutz und Missachtung der Würde der Einzelnen ist eine Aufforderung zum Tanz. Sei es ein Schwerttanz oder ein erotischer oder auch der offene Kampf. Keine der freiheitlichen Gesellschaftsordnungen, für die wir kämpfen, ist ideal, denn jede kollektive Ordnung wird auch zum Feind des Willens zum Eigensein. Der Widerspruch bleibt und wird ewig währen. Darum kann der Einzelne, wenn er seine Würde wahren will, niemals auf Wachsamkeit verzichten. Denn was weißt du, ob du dich nicht morgens beim Erwachen in Ketten wieder findest. Aber dennoch gibt es gewaltige Unterschiede zwischen den real existierenden gesellschaftlichen Systemen. Der Ruf nach (falscher) Toleranz ist heimtückisch und vernebelt die Diskurse.

Die offene Gesellschaft ist keine Bettstatt für den Schlaf der Gerechten. Gerechtigkeit ist eine Chiffre für den realen Wunsch der Darbenden und der Geschundenen, auch mitessen zu können am reich gedeckten Tisch der Anderen. Die (moralisch) Gerechten jedoch sind freiwillige oder unfreiwillige Agenten des moralischen Kollektivs, welche pauschale Ideale über die Realität des Eigenseins stellen. Der Schlaf der Gerechten ist genährt von der Illusion, selbst in Frieden leben zu können, wenn man nur den anders moralisierenden Nachbarn in Ruhe lasse. Ihre idealistische Toleranz ist ein Selbstbetrug, gerechtfertigt durch ebenso naive wie selbstgerechte Schlussfolgerungen. Was tun, wenn der Nachbar deine Lebensart am liebsten als teuflische verbieten möchte? Was tun, wenn du annehmen musst, dass er dich nur darum nicht in Ketten legt, weil ihm zur Zeit grad die Macht dazu fehlt? Deine Lebensart ist nicht gut, weil Gott sie gut findet, sondern weil du für dich das Gute und das Böse selbst definierst. Das tun alle, ob sie es wissen oder nicht. Aber wehe, wenn du deine Macht, das tun zu können, verlierst! Erst dann und deshalb bist du geliefert und nicht bloß weil die Anderen dich böse finden.

Darum gibt es niemals Ruhe. Unablässige Wachsamkeit ist vonnöten. Der Kampf erfordert eine effiziente Intoleranz gegenüber allen gesellschaftsmächtigen intoleranten Konzepten, welche das Eigensein der Einzelnen über die minimalen Anforderungen des Schutzes der Anderen hinaus einzuschränken trachten. Die Errungenschaften der Moderne sind keine gottgefälligen Fortschritte gebesserter Menschen, sondern lediglich prekäre Siege derer, welche die individuelle Freiheit des Denkens und Sprechens und die weltlich geordnete Gesellschaft der Herrschaft der alleinseligmachenden Kirche und ihrer Prediger vorziehen. Zu diesen Machtpositionen (z.B. der völligen oder weitgehenden Trennung von Kirche und Staat) haben nicht nur aufklärerische Denker, sondern u.a. auch Soldaten beigetragen. Und offensichtlich können wir nicht einfach ausruhen in unseren Stellungen. Vor dir wird der totalitäre Widersacher natürlich Toleranz und Friedfertigkeit fordern und die unvermeidlichen Widersprüche und Ungerechtigkeiten in der offenen Gesellschaft für seine Zwecke ausbeuten. Das gehört zur psychologischen Kriegführung.

Viele unserer Intellektuellen sind nachlässig geworden in ihrer so gepriesenen Anstrengung des Denkens. Sie vermeiden jede grundsätzliche Kritik der Religionen und ihrer im totalitären Konzept höchst gefährlichen Wirkungen auf die Köpfe und Herzen der Gläubigen. Oder sie tun so, als wären dies längst alte Kamellen. Vielleicht ist das angestrengte Bemühen zum differenzierenden theoretischen Denken eine Falle, in welche die sauberen Denker geraten, indem sie die leider auch schmutzigen machtpolitischen Voraussetzungen ihres Denkendürfens ausblenden. Die Würde der Religion und der heiligen Ideale wird wieder weit herum über die Würde der Einzelnen gestellt. Wenn so genannte Fanatiker Grauen um sich verbreiten, dann werden allein diese als irrgläubig bezeichneten Individuen attackiert, aber lasst uns ja die heiligen Bücher und ehrwürdigen Religionen in Ruhe! Wie war das schon wieder mit unserer Aufklärung? Welcher Kritik verdanken wir die langfristigen gesellschaftspolitischen Veränderungen der Neuzeit? «Écrasez l'infâme!» war Voltaires Schlachtruf im 18. Jahrhundert. Heute geht es jedoch nicht nur um christliche Kirchen. Doch nicht zufällig hat die Römische Kirche gerade jetzt wieder den totalitären Anspruch ihrer Glaubenslehre hervorgehoben.

Die "Ungläubigen" sind wieder in die Defensive geraten und die ruhmverwöhnten kritischen Philosophen der jüngsten Zeit pflegen in ihren Gedankengärtlein ihre modischen Zuchtpflänzchen, welche kaum zur Behebung der weltweiten geistig-seelischen Mangelernährung des Willens der Einzelnen zur Selbstbehauptung ihres Eigenseins beitragen. Heute wird der undifferenzierten, emotionalen Pauschalisierung bezichtigt, wer Religion als Gesamtkonzept mit ihren mal unausgesprochenen, mal expliziten Totalitätsansprüchen als wesentlichen Anstoß und Nährboden der Motivation der gläubigen Krieger hervorhebt und nicht bloß auf wild gewordene Einzelne verweist, aber auch nicht allein auf das Anliegen des Befreiungskrieges. Die nie versiegende Quelle der Kränkung liegt in der Unverträglichkeit der Wertvorstellungen der Moderne und der daraus resultierenden Organisationsformen des gesellschaftlichen Lebens mit den engen Wertkonzepten religiöser Glaubensformen, die, wo immer die Machtverhältnisse das erlauben, nicht mehr nur dem Gewissen der Einzelnen anheim gestellt sind, sondern durch die Diktatur der Glaubenswächter erzwungen werden. Der Weg von der kollektiven Kränkung zum Krieg ist allzu kurz!

Politiker dürfen nicht so sprechen, denn ihre Aufgabe ist eine besondere. Sie sollten fähig sein, reale Beziehungen zu den Vertretern aller Gesellschaften und Organisationen zu pflegen, egal, was deren Weltanschauung und gesellschaftspolitische Haltung ist, und ohne andere (auch Gegner) unnötig vor den Kopf zu stoßen!  Ein Politiker, der nicht weiß, womit er andere kränkt, sollte nochmals zur Schule geschickt werden. Aber die unabhängigen Intellektuellen hätten eine zusätzliche Aufgabe. Es geht nicht um die Weltreligionen als geistiges Kulturgut, sondern um die real gelebten Religionen, welche in mannigfacher Weise offen und verdeckt politisch wirksam sind. Um das, was in den Familien, den Schulen und den heiligen Hallen gelehrt und gepredigt wird. Um die augenfällige Abrichtung bereits der Kinder zur kritiklosen religiösen Frömmigkeit und Unterwerfung, weltweit. Um die Hinführung der noch wehrlosen Einzelnen zur Identifikation mit dem totalitären Endziel. Alle andere Beschäftigung mit Religion können sich Religionswissenschaftler nur hierzulande leisten, denn das wäre im real existierenden Indoktrinationsraum schon subversiv. Die Römische Kirche bekämpft heute noch die kritischen Geister in ihren eigenen Reihen. Darum ist eine ausreichende Trennung von Kirche und Staat ein globales Anliegen, weil ohne sie niemals auch nur im Ansatz so etwas wie Völkerverständigung oder gar -gemeinschaft wirklich werden wird.

Oh ja! Auch die weltweite und übergroße Kluft zwischen Armen und Reichen, wirtschaftlich Mächtigen und Ohnmächtigen schafft permanente Unruhe, große Unruhe. Aber gerade unser eigenes Empörtsein über dieses Elend wird von den Feinden unseres Anspruches auf Eigensein für ihre Zwecke genutzt. Die den eigenen gesellschaftlichen Machtverhältnissen gegenüber kritischen Intellektuellen und die ängstlichen Friedensforderer werden von den sich in bezug auf ihr Endziel bedeckt gebenden Gegnern instrumentalisiert: Macht zuerst die Weltordnung gerechter, bevor ihr ... Das ist ein gefährlich ignorantes und kurzsichtiges "Argument". Und außerdem: Vor politischen und wirtschaftspolitischen Idealen, welche den Menschen Gerechtigkeit und Glückseligkeit versprechen, sollten wir nun gelernt haben, uns zu fürchten.

So unterminieren wir die eigene Machtposition, weil wir uns Macht vorwerfen lassen. Selbstverständlich schimpfen die Prediger der religiösen Unterwerfung über die Arroganz der real existierenden Weltmacht, weil sie selbst die Ausweitung der totalitären Herrschaft ihrer religiösen Unterwerfungsforderung erstreben. Weil sie die Ablehnung ihres totalitären Glaubensanspruches kränkt, vor allem dort wo ihnen die Macht fehlt, ihn durchzusetzen. Ihre gefährlichste Waffe in diesem Krieg ist die systematisch herangezüchtete kollektive Kränkung der gläubigen Einzelnen, wo immer dieser totalitäre Anspruch und die damit verbundene Gesellschaftsordnung in Frage gestellt wird. Darauf ist auch und nicht zuletzt zu achten, wenn die Ermahnung, doch die Ursachen hinter den kriegerischen Attacken zu sehen, allerorten laut wird. Auch die von Medien eingeforderte Meinungsäußerungen aller Friedensnobelpreisträger trägt nichts bei zur brauchbaren Einschätzung der Lage und der Beantwortung der Frage: Was tun?

Warum vergessen wir plötzlich die überlebensnotwendige Unterscheidung zwischen unserer Unzufriedenheit mit den Schwächen der "offenen Gesellschaft", die so offen nun in mancher Hinsicht auch wieder nicht ist, und der latenten Hoffung ihrer Todfeinde auf den Endsieg? Der Feind wird nicht zum Freund, indem wir mit dem moralischen Zeigefinger im eigenen Lager herumfuchteln und das Mea culpa für weiß nicht was anstimmen. Und noch etwas, für kritische Denker eigentlich selbstverständlich, aber in der derzeitigen öffentlichen Debatte fast auf den Kopf gestellt: der eigentliche Feind ist nie der Einzelne (ob Gläubiger, Terrorist oder Soldat) und möge er sich noch so katastrophal gebärden, sondern das totalitäre gesellschaftliche System und Gedankengut, das durchgesetzt werden soll. Seinem Machtanspruch, der jede Toleranz erwürgen will, müssen wir unsere unabdingbare Intoleranz entgegensetzen. Und uns nicht beirren lassen, wenn erfolgreiche Bestrebungen, die Macht der "offenen Gesellschaft" zu wahren und global auszuweiten, von ihren Feinden gebrandmarkt werden.

Die notwendige Intoleranz und höchste Wachsamkeit gegenüber jedem religiösen oder ideologischen Totalitarismus verweist keineswegs auf die Grenzen der Toleranz der offenen Gesellschaft, sowenig die Abwehr lebendiger suizidaler Impulse als lebensfeindlich bezeichnet werden sollte. Eine offene Gesellschaft ist auch niemals ein ideales Gebilde, sondern ein wechselhaftes Spiel von Machtverhältnissen zwischen den Zwängen der systemischen Einbindung und dem Eigensein. Der Einzelne gleicht darin einem Wellenreiter im Meer der Gemeinschaft, deren Wogen sein Eigensein tragen und auf denen er kunstvoll dahin gleitet, deren Brecher ihn aber auch jederzeit zu Fall kommen lassen und verschlingen können. Nur die zur kämpfenden Intoleranz bereite Toleranz ist keine suizidale Toleranz.

Die offene Gesellschaft wird nie einen sicheren Hort, sowohl für mein Geborgensein, wie auch für mein Eigenseins bieten können. Bestenfalls Bühnen für den Tanz der Widersprüche zwischen meinem sozialen Sein und meinem Eigensein, immer wieder auch Arenen des Kampfes zwischen dem Willen des Einzelnen zu mehr Autonomie und dem Willen des Ganzen, ihn als funktionales Teilchen zu disziplinieren.

Dem Eigensein die Welt! Eine Provokation - keine Ideologie. Jeder Entwurf, der verspricht die Widersprüche zwischen Gemeinschaft und Eigensein gesellschaftlich aufzulösen, ist in höchstem Masse gefährlich für die gesellschaftspolitischen Chancen der Einzelnen für ihre Würde als Einzelne einstehen zu können.


September 2001 © skeptic line >