7. Das Profane

Das Du ist älter als das Ich ...

Nietzsche, 1883

Das Heilige und das Profane bedingen sich gegenseitig. Keines kann ohne das andere zur Sprache kommen. Das Profane ist mein Kosmos, die nährende Welt, die gewalttätige Welt, das Materielle, das Kulturelle, die Familie, das Gemeinschaftliche, das Gesellschaftliche.

Das Du ist nicht wirklich älter als das Ich; es ist das befruchtete Ei aus dem das Selbst sich von Anbeginn genießend schafft. Bevor der Einzelne sich selbst verwerten kann, verbraucht er die Mutter. Am Anfang steht nicht die Selbstliebe. Der Säuglings saugt nicht nur die Milch in sich auf, sondern auch den »Glanz in den Augen der Mutter«. Die erste kreative Tat des keimenden Ich ist Beziehung. Sie muss ihm angeboten werden und es beginnt sie schöpferisch mitzugestalten. Vom Verlauf  des sozialen Wechselspiels und der damit verbundenen Ausformung der unbewussten seelischen Programme hängt ab, wie stark oder schwach die Fähigkeit des Einzelnen zum Selbstgenuss sich ausbildet. Freud hat sich an den neuen physikalischen Modellbildungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts orientiert und alles auf die Metapher der physikalischen Energieumwandlung gesetzt. Seine Modelle können dem für die Ausbildung des Selbst wichtigen Sachverhalt der „sozialen Bindung“ nicht genügend Rechnung tragen.

Der seelische Grundkonflikt entsteht nach Freud aus dem Zusammenprall von physiologischen Triebansprüchen und kulturellen Versagungen. Durch die Angstabwehr verdrängt das Kind die verbotenen Wünsche ins Unbewusste und schützt sich vor dem Wiederbewusstwerden durch eine innere Zensur. Eigentlich ist die innere Logik dieses Modells eine soziale: die Angst ist die Angst vor Strafe, und die schlimmste Strafe ist der Liebesverlust. Aber Freud hat diese soziale Logik theoretisch nicht ausreichend dargestellt. Ausgehend von der Säuglings- und Verhaltensforschung haben spätere Psychoanalytiker andere Modelle des Psychischen verwendet, die sich diesem Sachverhalt einleuchtender annähern.

Heute wird der seelische Grundkonflikt vermehrt im inneren Widerstreit zwischen dem Bedürfnis des Geborgenseins in der Sorge und Wertschätzung durch das Du und durch die Gemeinschaft und dem Bedürfnis nach Eigensein und Selbstbestimmung gesucht. Die dadurch vorwiegend provozierte, latente seelische Alarmstimmung heißt Scham. Es stimmt, dass die Leute hierzulande an Managementproblemen in Bezug auf ihr Triebleben, an Ängsten, Zwängen, Schuld- und Minderwertigkeitsgefühlen usw. leiden. Aber die unbewusst gesteuerten psychischen Abwehrprozesse, welche hintergründig wohl für die Mehrzahl der seelischen Leiden verantwortlich sind, haben vielleicht häufiger mit Problemen der Abwehr oder Vermeidung des Schamaffekts zu tun als mit Angst – auch wenn der undifferenzierte Sprachgebrauch immer noch jede wahrnehmbare innerseelische Abwehrregung als Angst bezeichnet. Das Minderwertigkeitsgefühl ist die seelische Alarmstimmung der misslungenen Flucht aus der Scham. Die Scham ist der eigentliche Gegenspieler des Selbstgenusses. Dabei geht es um weit mehr und um komplexere Zusammenhänge als die der „Verinnerlichung kultureller Zwänge“, weder die Reduktion des rigiden Überich auf „vernünftige“ Dimensionen, noch seine gänzliche Beseitigung lösen das Problem des gestörten Selbstgenusses – weil das Modell ungenügend ist.

Bei Stirner finden wir eine rudimentäre Vorwegnahme des späteren Strukturmodells von Freud (wie es allerdings in Varianten schon in der antiken Philosophie vorkommt): die Triebe, das Ich und die verinnerlichte Geistkultur. Das Ich des Eigners ist Herr über die eigenen Triebe, wie auch über die anmaßenden geistigen Wahngebilde der Kultur – das Ideal des völlig autonomen Ich. Trotz seiner Verdienste im konsequenten Nachdenken über die Anmaßungen der Macht von Gemeinschaft und Gesellschaft gegenüber dem Einzelnen, hat Stirner wichtige Bereiche des Selbstgenusses vernachlässigt oder einseitig als „Spuk“ und „ein Sparren zuviel im Kopf“ abgetan. Vom Begriff des „Heiligen“ habe ich soeben gesprochen – das mag noch eine sprachliche Liebhaberei von mir sein. Aber die spontane Bedeutung der „irrealen“ Phantasien, Träume und Symbole, ja sogar versponnener Glaubensinhalte für die Sinngebung des Lebens der Einzelnen kann nicht nur mit dem Hinweis auf ihren Gebrauch als Mittel der Manipulation durch gesellschaftliche Machtinteressen abgetan werden – auch wenn es stimmt!

Die Märchen, Geschichten, Fiktionen, die mir die Kultur anbietet, können die meinigen werden. Die Unterscheidung der virtuellen Welt von der realen ist banal. Freud gliedert den Traum in sein manifestes Erscheinungsbild, welches Material aus dem Erinnerungsspeicher mehr oder weniger fantastisch kombiniert, und den latenten Traum, der in diesem Film meine unbewusste Befindlichkeit zu einem, für das bewusste Nachdenken darüber, oft schwer verständlichen Ausdruck bringt. Es geht mir hier nicht um Freuds Modell der Verdrängung und Zensur, sondern um die Frage von Bild- und Text-Material einerseits und seiner Bedeutung, meiner Bedeutung, andererseits. Denn genau in dem, was der Psychoanalytiker latenter Traum nennt, ist es mein Traum, bin ich es, der die Bilder aus der Realität nach meinem Gutdünken verbrauche, ohne mich um das Diktat der Vernunft und der raumzeitlichen Logik zu kümmern. Was ist das mir Fremde? Die profane Welt der Vernunft und der Machtverhältnisse oder die Fiktionen und Symbole meiner Träume?

Die Aufklärer haben sich die Vernunft zum Selbstgebrauch erkämpft, weg von der Gängelung durch kirchliche und andere gesellschaftliche Institutionen. In Anknüpfung an diesen antiklerikalen Aufstand ist Stirner auch ein Aufklärer. Aber in seiner Ablehnung der philosophischen Gleichsetzung des Rationalen, Geistigen mit dem Wahren, Guten und Schönen, und indem er gegen den objektiven Geist in äußerster Konsequenz den sich selbst bestimmenden Einzelnen als Subjekt setzt, vertritt er ein zentrales Anliegen der Romantik.  Stirner verneint die »Pflicht zum Gebrauch der Vernunft«, wie auch alle andern „Pflichten“ u.dgl. als suggestive Überbleibsel religiöser Fremdherrschaft. Die Annahme unbewusster psychischer Informationsverarbeitung erscheint in seinem „Einzigen“ selbstverständlich.

Die Romantiker des 18./19. Jh. sind gegen die Tabula-rasa-Diktatur des rationalistisch-materialistischen Weltbildes angetreten, um gegen den Totalitarismus des Glaubens an Wissenschaft und Technik die innere Welt des subjektiven Empfindens zu behaupten. Dem Gewöhnlichen haben sie das Geheimnisvolle entgegen gestellt, dem Bewussten das Unbewusste. Die Endlichkeit des Individuums ward, so Novalis, »mit einem unendlichen Schein romantisiert«. Vielleicht aber können wir erst, wenn wir aus dem revolutionären Impetus sowohl der Aufklärung als auch der Romantik  heraustreten, ohne ihre befreienden Leistungen zu schmälern, uns des Absurden unserer Existenz gewahr werden. Was bei Stirner in seinem Begriff des „Einzigen“ durchaus anklingt, auch wenn er es nicht ausspricht.

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