Das Kreuz mit dem «großen Ich»

Das große Ich ist eine Schöpfung von Max Stirner:
«Meine Sache ist ... einzig, wie Ich einzig bin.»
Viele hat er inspiriert, wenn ihn auch
die wenigsten der vielen kennen.
Freie Geister, «Stirnerianer», Anarchisten, Libertäre, «freie Kapitalisten» ...
berufen sich auf ihn. Ich groß geschrieben, groß gedacht.

Ich will hier nicht von Stirners Werk sprechen, nicht darüber sinnieren,
wie weit sein Buch der Konsequenz seines eigenen Denkens überhaupt gewachsen ist.
Das Kreuz mit dem großen Ich ist seine Entfaltung als Perspektive der besseren Gestaltung von Gemeinschaft und Gesellschaft,
als Ideal (!) einer «freien Gesellschaftsordnung»,
in der allen Personen die Möglichkeit der «freien Entwicklung» gewährt würde,
als Ideal der Selbstbestimmung –
(je nach Einstellung) mit oder ohne Solidarität und Gleichberechtigung;
es soll (!) in einer solchen Gesellschaft um mich gehen und nicht um die Gemeinschaft;
ich lebe nicht um des Kollektivs willen, sondern um meinetwillen.

Ich will hier auch nicht das Philosophen-, Literaten- und Religionsforscher-Klischee bedienen von der Notwendigkeit multikultureller Toleranz «westlicher Ideale» der Individualität und «östlicher Weisheit» der Hingabe an das Allgemeine.
Wenn ich mit dem «großen Ich» und für das «große Ich»
den idealen gesellschaftlichen Lebensraum einfordere, dann habe ich
die philosophische Konsequenz des «großen Ich» nicht ganz verstanden.

Sobald ich die gemeinschaftliche Perspektive einnehme,
gibt es nicht nur Mich, sondern Milliarden Michs.
Die Größe «Ich» wird zur statistischen –
wie es der englische Philosoph und Begründer des Utilitarismus, Jeremy Bentham (1748 - 1832), ausgedrückt hat:
«Morality as a human creation, serving human ends:
the greatest happiness for the greatest number
Oder etwas illusionsloser gesagt:
«Das geringste Leid der geringsten Zahl» (Karl Popper / 1902-94).

Das «große Ich» ist kein Naturrecht, aus dem sich das «unveräußerliche Recht,
in Würde und Freiheit zu leben» oder sonstige Rechte ableiten ließen.
Recht ist ein Produkt gesellschaftlicher Machtverhältnisse mit zum Teil wechselhaften, zum Teil überdauernden, interkulturell auftretenden Inhalten.
Die «Natur» mag manche Machtstrukturen begünstigen, was aber am «Wesen» des Rechts nichts ändert.

Das «große Ich» gehört zur Begriffswelt der Philosophie der Werte,
nicht zu jener der Gesellschaftspolitik (oder, was dasselbe ist, der Anti-Politik).
ICH und nur ICH bin das Zentrum aller Werte.
Selbst wenn ich ein leidenschaftlicher Anhänger der Werte bin,
welche die katholische Kirche verkündet oder irgendwelche muslimischen oder buddhistischen oder jüdischen oder hinduistischen Religionslehrer oder weltlich orientierte Parteizentralen oder der herrschende Mainstream des mediengelenkten Gesellschaftslebens, modegeil, starkultbesessen,
selbst dann bin ICH es der glaubt oder nicht glaubt,
der sich dem magischen Bann des Sollens und Wollens
und Schwärmens und Eiferns hingibt
oder entzieht.

«Selbstverwirklichung» ist ein wohlfeiler Begriff.
Propagandisten aller Schattierungen verpacken ihre Auffassung vom Sinn des Lebens darin.
In der christlich-abendländischen Tradition spukt der «freie Wille»  der Person,
welche über sich selber entscheiden soll, durch das Bedeutungsfeld –
bis zur philosophischen Lehre, dass ich mein Schicksal selber wählen müsse,
und den Bemühungen in Psychoanalysen, Psychotherapien oder
Guten-Ratschlags-Büchern mit dem Ziel,
mir zur besseren Selbstwerdung (lies: seelischen Gesundheit) zu verhelfen.
Doch die "seelischen Gesundheit" ist ein gesellschaftspolitisches Konzept.

Asiatische Gurus und ihre Schüler werden mir das Gegenteil verkünden.
Ihre Mystik der Selbstverwirklichung ist Moksha,
der Zustand der Erkenntnis und Freiheit im Versuch,
eins zu werden mit der «letzten Wirklichkeit»,
im Bewusstsein der All-Einheit.
Das «große Ich», die größte Sünde;
Ichbewusstsein der Inbegriff unerlöster Existenz.
Meine höchste Berufung bestehe darin, nach Selbstverwirklichung zu streben.
Alle anderen Verpflichtungen seien zweitrangig.
Das verkünden auch westliche Psychotherapeuten.
Aber bei den "Asiaten" geht es darum, den Zweck meiner Geburt zu erfüllen.
Selbstverwirklichung heißt Verzicht auf Eigenwillen und Begehren,
mich nicht von schnödem Ichbewusstsein leiten lassen,
nur von der Hingabe an das [gesellschaftlich!] Notwendige,
als pflichtgemäße Tat, frei von Weltlust, Leidenschaft und Hass
ohne Rücksicht auf Erfolg ... (Bhagavad-Gîtâ)
(der letzte Punkt steht natürlich in unmittelbarem Gegensatz
zur imperialistisch globalisierenden [westlichen] Marktwirtschaft und der
evolutionstheoretischen Ordnungslehre ;-)

Sobald ich die gesellschaftliche Perspektive eröffne,
wird meine Rede von «großen Ich» Teil des großen Polit-Geschwätzes.
Auch die altanarchistische Parole:
«Politik ist nicht die Lösung! Politik ist das Problem!» gehört dazu.
Denn mit dieser Aussage politisiere ich schon lautstark –
vielleicht mir dem selben Humor, wie das verbotene Verbieten ...
Wie gerne betrüge ich mich doch,
wenn ich die Welt kabarettistisch verändern "kann" ...

Das Problem (nicht das einzige aber ein wenig durchschautes)
ist die Herrschaft der moralischen Redeweisen und
der ethischen Denkungsart.
Statt in den Kategorien der Machtverhältnisse
(vielleicht wie bei Wetter und Klima)
denke ich in den Kategorien des Sollens,
ob Kapitän oder Meuterer –
die Moralpeitsche dient der Agitation und Propaganda
und der psychologischen Kriegführung
(nicht nur jener der Weltmächte, auch der meinigen),
verliere ich den Krieg (praktisch immer),
bleibt mir das große moralische Gejammer,
über die Volksbetrüger
(deren psychologische Kriegführung immer verwerflich ist! logo!),
über die neoliberalen Kapitalisten, die offenen und versteckten Sozialisten,
über die Korrupten, die Besessenen, die undifferenzierten Vereinfacher,
die differenzierenden intellektuellen Eunuchen ...

Das Elend der Ethik ist die Mutter des großen Geschwätzes.

Die alten Anarchisten haben sich die Organisation der gesellschaftlichen
Freiheit der Einzelnen sozialistisch vorgestellt,
Wohlstand für alle,
aber ohne staatliches Machtmonopol, ohne Herrschaft von Institutionen,
«jedem nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähigkeiten»,
Solidarität ohne Parteidiktatur,
in freier Vereinbarung ...
Die Zweifler wurden (im mildesten Falle) des falschen Menschenbildes bezichtigt.
Die Wahrheit sei:
Der Egoismus der Einzelnen sei derart sozial
(wenn nur die pädagogisch verderblichen Einflüsse beseitigt und in Zukunft verhindert werden könnten),
die gegenseitige Hilfe derart universal,
dass es keinerlei gesellschaftlicher Machtmonopole (Staat) bedürfe,
um die beste Organisations-Form des weltweiten Zusammenlebens,
die herrschaftsfreie Gesellschaft, die Anarchie
Wirklichkeit werden zu lassen
(wenn die vermaledeiten, autoritären Gegner das nur zulassen würden...)

Die Versuche, mit Terrorakten gegen "Herrscher" und ihre Symbole
den großen Aufstand der "Unterjochten" anzustoßen,
sind nicht immer kläglich dahergekommen,
sind aber immer kläglich gescheitert.
Der Irrtum muss mangelnde Menschenkenntnis sein –
oder zu rigide "anarchistische" Moralvorstellungen ...

 

 

 

Auch das edle und aufgeklärte Projekt,
mein Kind zur "Freiheitsfähigkeit" zu erziehen,
hat nichts mit der Werthaltung des «großen Ich» zu tun,
sondern mit der Lust meine leidenschaftliche Vorliebe
auf mein Kind zu übertragen,
so wie ein anderer seins zum Gehorsam erzieht.
Der Unterschied mag ein ästhetischer sein –
doch weder der Erfolg, noch die gesellschaftliche Bedeutung
meiner Haltung lässt sich voraussehen.

Das «große Ich» ist keine gesellschaftliche Perspektive,
sondern das metaphysische Bild der Tatsache meines Lebens,
gewissermaßen ein Gegenbild zu all den Mythen
von Himmel und Hölle oder den Rädern der Wiedergeburt,
ein Gegenbild zur Propaganda eines Jenseits,
in welchem meine wahre Bestimmung festgelegt sei,
die ich zu suchen und zu finden hätte,
ein Gegenbild zur gesellschaftlichen Propagandathese,
dass irgendwelche Rechtsordnung dieser Welt
einen anderen Rechtfertigungsgrund hätte,
als meine Willkür oder (das ist die Regel)
die jeweils vorherrschenden gesellschaftspolitischen Machtverhältnisse.

So lässt sich aus der Einsicht in das «große Ich»
keinerlei Gesellschaftsordnung ableiten oder bevorzugen.
(Dass Max Stirner den Staat verwirft, gehört zur schöpferischen Freiheit
seines Denkens, lässt sich aber keineswegs aus der Logik seiner Ich-Perspektive ableiten, welche folgerichtig jede grundsätzliche Bindung an ein Ideal verwirft, sogar die Forderung der "Treue sich selbst gegenüber" –
was ich heute postulieren, kann ich morgen verwerfen, wenn es mir beliebt.)

Ob ich eine christlich fundamentalistische, ein jüdische, eine muslimische,
eine kommunistische, atheistische, pluralistische, parlamentarische, libertäre
oder welche Gesellschaftsordnung auch immer bevorzuge,
entscheidet allein meine Leidenschaft und Skepsis.
In welcher Ordnung und Sauordnung ich wirklich lebe,
ist eine Frage von Wetter und Klima.
Wie sehr ich diese zu beeinflussen vermag,
hängt (ziemlich "technokratisch" bestimmt) von den
wirklich herrschenden Machtverhältnissen ab,
in denen ich nur agieren kann,
wenn und soweit ich auch reale Macht entfalte.
Wie weit mein (meist unästhetisches) Moralgeschrei
Macht entfaltet, ist ungewiss.
Bin ich in guter Gesellschaft, so hat sich das «große Ich»
den (meist hysterisch agierenden) Massen anvertraut.
Warum nicht? Wenn sie für den Frieden schreien ...

Ob ich in Ketten geschlagen bin, an Krebs erkranke
oder von der Geliebten verraten werde,
von der Gemeinschaft verurteilt oder verspottet,
ob ich mich als Mitglied oder gar Spitze einer Elite wähne,
oder als unbedeutendes Nichts und als Versager,
ändert kein Jota am «großen Ich»,
meine Leidenschaft mag sich dagegen aufbäumen,
meine Angst und Scham mich plagen.
ICH bleibe das einzige Zentrum meiner Werte –
ob mir das passt oder nicht.
(Die katholische Kirche leugnet diesen Umstand nicht,
aber sie wendet die «Würde der Person» gesellschaftspolitisch zu meiner
ganz persönlichen «Verantwortung», an der meine Bestrafung für
alle moralischen Regelverstöße gerechtfertigt werden kann.
Diese Denkungsart ist auch weltlicheren Bewegungen eigen!)

Das «große Ich» lässt sich philosophisch auf nichts festlegen.
Die verschiedenen Ideale der «Selbstverwirklichung» sind
Bastelanleitungen, wie ich mein Leben auch noch fristen könnte,
Unterhaltungsangebote, wie Kino-, Theater-, und Konzertprogramme
oder Gottesdienste oder Sportanlässe.
Das «große Ich» ist jedoch stets verwirklicht,
solange ich da bin und wie auch immer.
Ich kann herrschen oder mich unterwerfen wollen
oder so weit wie möglich meine eigenen Wege gehen.
Ich kann mich "entscheiden" oder "treiben lassen",
mit den Wölfen heulen oder gegen sie –
auf das «große Ich» bezogen,
ist alles einerlei.

antonio cho ©

 

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