... Spuren der Würde des Einzelnen

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Die apokalyptischen Prediger vom
Ende der «Ich-Gesellschaft»

Eine Polemik

«Manie heißt in der Psychiatrie eine Krankheit. Wer von ihr befallen ist, strotzt vor Selbstüberschätzung, hält sich für das Maß aller Dinge und lässt sich in seinen Ansprüchen durch keine Bedenken oder Schuldgefühle hemmen. Niemand ist da vor dem der Maniker sich verantworten zu müssen glaubt. Er sieht keine Bindung mehr, die ihn verpflichtet oder die ihm selbst Halt geben könnte oder müsste. Wer sich in dieser Weise plötzlich in seinem Wesen verändert, wird zumeist als Patient erkannt und hat damit das Glück, zum eigenen Wohl und zum Schutz seiner Angehörigen in psychiatrische Betreuung zu gelangen.»

Horst-Eberhard Richter
«Das Ende der Egomanie», Köln 2002

Die Wir-Prediger. Ihre Diktion ist arrogant, unverschämt und unredlich. Doch ihre intellektuelle Bigotterie findet großes Echo im Mainstream der mediengepeitschten Empörungskultur. Bigott ist das verantwortungslose Predigen von Verantwortung. Manch selbsternannter «Antifaschist» weiß zwar treffsicher die fremdenfeindliche Agitation der extremen Rechten als Ausnützen irrationaler Ängste und Aggressionen im Gefühlshaushalt der so Aufhetzbaren zu deuten. Doch auch die Prediger wider die Ich-Gesellschaft tun das selbe extensiv. Wenn im Mittelalter Seuchenepidemien, Krieg, Hungersnöte die Menschen verängstigt und gebeutelt haben, dann war die hohe Zeit der Bussprediger und Hexenjäger. Verantwortungslos ist das eitle Reiten so mancher Intellektueller (welche sich ja ausgerechnet «Verantwortungzeigen» zum Beruf gemacht haben) und Wissenschaftler auf den heute weltweit kommunizierten Wogen der Empörung über alles Unrecht der Welt. Verantwortungslos ist ihr moralisierendes Pauschalgeschimpfe über die Gefahren moderner Wissenschaft und Technik, ihre Neigung auf dem Feuer der Wut und der verständlichen, z. T. berechtigten Ängste der einseitig informierten Protestmassen ihr geliebtes wir-ideologisches Süppchen zu kochen. Verantwortungslos ist vor allem, dass jene, die dazu fähig wären, darauf verzichten, der realen Komplexität der bestehenden Weltprobleme auch nur andeutungsweise Rechnung zu tragen, sondern es vorziehen, in der edlen Pose des Mahners moralische Punkte zu sammeln.

Nur ein Beispiel

Zum Geschäft des Psychoanalytikers gehört eigentlich das redliche Aufdecken und nicht die seelisch-geistige Falschmünzerei. Doch genau dieser bezichtige ich gewisse Berufskollegen, von denen Horst-Eberhard Richter nur ein Beispiel ist, zu nennen wäre noch viele. Es geht hier nicht um Meinungsverschiedenheiten über psychologische Theorien oder therapeutische Praxis. Auch sein weltanschaulicher Hintergrund geht mich nichts an, solange er Privatsache bleibt. Das bleibt er aber nicht. Seine Missionsarbeit leistet er weder mit elegant verführerischer Propaganda noch mit scharfsinnig und weitsichtig vorgetragener kulturphilosophischer Aufklärung. Wie viele andere vor und mit ihm verlegt er sich auf's versteckte oder offensichtliche Beschimpfen und Verächtlichmachen des gegnerischen Standpunktes. Anstelle sachbezogener, stringenter Darlegungen setzt er willkürliche Bezüge zu Philosophen, Psychologen, geschichtlichen Episoden usw., so wie sie eben der Illustration seiner Predigten grad willkommen sind. Das Jämmerlichste aber ist der Missbrauch des Vokabulars der psychologischen und psychiatrischen Diagnostik, mit der er seine «weltanschaulichen» Gegner disqualifiziert. Das Erzeugen solchen Scheins von Kompetenz und Verantwortlichkeit ist Falschmünzerei. Das konkrete Ziel des eingangs zitierten Buches von Richter ist die tendenziöse Irreführung der Leser über das gesamte weltanschauliche Spektrum des «Individualismus» und dessen Verunglimpfung.

Ich will den hier von mir Angegriffenen nicht pathologisieren mit seinen von ihm selbst für andere gebrauchten Begriffen wie «Gotteskomplex», «Omnipotenzwahn» oder «Egomanie», sondern ihm lieber die volle Zurechnungsfähigkeit unterstellen und es einfach lachhaft arrogant nennen, wenn der moralisierende Psychiater «die moderne westliche Zivilisation als psychosoziale Störung» diffamiert. Wie gesagt, Richter ist nur ein illustrierendes Beispiel für die Sachverhalte, denen meine Polemik gilt. Über seine Biographie und sein Werk will ich mich im Weiteren nicht äußern. Habe ich den Kulturphilosophen verpasst, der allenfalls gegen Richters Unverschämtheit des Begriffes vom «Gotteskomplex» protestiert hat – oder hat keine(r)? Dann sei es hier getan. Mit diesem Begriff (und im gleichnamigen Buch) beschreibt er die Entwicklung der modernen Philosophie, des naturwissenschaftlichen Denkens und im Gefolge hier und dort eines ichzentrierten Lebensgefühls als Hybris, als verhängnisvolle Überheblichkeit. Wenn ein Mann der Kirche und ein Wächter über die Wahrung des alten religiösen Glaubens das tut, dann gehört das zu seinem Beruf. Aber Richter tritt gewissermaßen als wissenschaftlicher Forscher und psychoanalytischer Kulturdiagnostiker auf und versteigt sich in solcher (seiner Paartherapie entstammenden) Diktion zur ignoranten Unverschämtheit der Deutung, dass mit dem Aufkeimen der modernen Philosophie «ein Komplex wirksam wurde, nämlich der Versuch des Individuums, die schützende himmlische Sicherung durch eine omnipotente Selbstsicherung zu ersetzen. Je höher die Angst wuchs, Gott zu verlieren, umso dringender wurde der innere Zwang, sich selber der Naturkräfte zu versichern, denen man sonst schutzlos ausgeliefert sein würde ...» Wie Horst-Eberhard sich die Kulturgeschichte so vorstellt. Da hat man selbst Hemmungen zu vermuten, dass er versucht hat, die Kritik der Frankfurter Schule nachzuempfinden.

Unverschämt ist nicht die Dummheit als solche, sondern die Bigotterie des preisgekrönten Pazifisten, der alles, was ihm an der Welt nicht passt und insbesondere, was er in seinem Buch als «Egomanie» beschimpft, gewaltfrei pathologisiert und der Therapie zuführen möchte – erschreckend wird es da, wo wie im Eingangszitat kaum mehr nur zwischen den Zeilen seine Genugtuung darüber hervorlugt, wenn der «Maniker» (und das im Kontext seiner Verkündigung des «Endes der Egomanie»!) «als Patient erkannt und damit das Glück hat, zum eigenen Wohl und zum Schutz seiner Angehörigen in psychiatrische Betreuung zu gelangen». Selbst Zynismus lässt sich pazifistisch tarnen – das finden wir auch in der zeitgenössischen Polit-Empörung nur allzu häufig. Allerdings erscheint mir der mehr oder weniger heimliche Wunsch der Wir-Ideologen nach einer noch effizienteren Diktatur der Gemeinschaft folgerichtig. Der Weg dahin wird beschritten mit dem üblichen gewaltlosen Psychoterror der Diskreditierung aller entgegengesetzten Standpunkte («das Menschenbild»), mit der Propaganda der wo nicht falschen (wie im Falle der angeblichen Ich-Gesellschaft), so doch grob vereinfachenden Ursachenzuschreibung und der Einigkeit der Empörung gegen das Böse, was einem in der heiligen Gemeinschaft der Gerechten schon wie eine echte Alternative vorkommt. Wie schön ist es doch, der protestierenden Gemeinschaft zuzugehören. Das meine ich ehrlich, denn ich habe es selber erlebt. Aber wenn schon psychopathologisiert werden soll, wovon ich abrate, dann haben die Antiegoismus- und Wir-Prediger die Egomanie bei sich zu suchen. Denn sonst laufen wir Gefahr, uns derart in die Lumpen des Rufs nach Bescheidung zu kleiden, dass uns die Eitelkeit aus allen Löchern herausschaut.

Die Mär von der Ich-Gesellschaft

Auch wenn es sie nicht gibt, so gespenstert sie (vielleicht als Kaiserin ohne Kleider) doch fleißig durch die Medien und bietet sich als Sammelbegriff für die Grundübel der Zeit an. Die Hexe wird verbrannt. Doch wo soll sie sein? Etwa im globalisierenden «Neoliberalismus» und «Finanzkapitalismus», in den Verursachern des Ressourcenraubbaus oder der Umweltverschmutzung? Das zu glauben, bedürfte schon gewaltiger Scheuklappen. Moderne Großkonzerne und multinationale Wirtschaftsmächte sind alles andere als Horte der Egomanie. Dort herrscht offene Diktatur, die Peitsche der Nützlichkeit für das Unternehmen und eine eiskalte Gleichgültigkeit gegenüber aller Vielfalt privater Bedürfnisse. Kennst du einen Krieg, in welchem der Egomane gefeiert worden ist und nicht die Diktatur des Wir? Selbst die scheinbare Anwendung der ökonomischen Perspektive, dass der «freie Markt» vom Wettbewerb der Eigeninteressen reguliert werde, hat, abgesehen davon wie divergierend die Analysen der wirtschaftspolitischen Machtverhältnisse sind, nichts mit irgendwelcher Egomanie von Einzelpersonen zu tun. Und die schamlose Abzockerei gewisser Topmanager hat nichts mit dem zu tun, was das Eigeninteresse des Unternehmens hervorbringt, sondern sind das System beeinträchtigende Nebenwirkungen allzu günstiger Gelegenheiten, wie auch «gewöhnliche» Korruption, Unterschlagung und Raub. Dazu kommt das wirkliche Übel der hochkomplexen Vernetzung sozialer, wirtschaftlicher, politischer und technischer Zusammenhänge, welche für die Einzelnen und selbst für Teams kaum mehr umfassend zu beurteien sind. Welch herrliches Tummelfeld für Scharlatane aller Schattierungen, ihre moralischen Anklagen und Heilsrezepte gut zu verkaufen.

Der Ausdruck «Gruppenegoismus» ist eine modische sprachliche Fehlleistung. Wenn Gruppen ein «Ich» zugeschrieben wird, ist diese Metapher höchst verfänglich. Gruppen sind Wir-Gebilde oder sie sind als Gruppen nicht lebensfähig. Kein universelles Wir, aber ein partielles. Die Forderung nach universeller Gerechtigkeit ist die Forderung nach dem universellen Wir, dem universellen Gemeinschaftsgefühl. Aussagen wie, der «Egoismus der Länder des Nordens» sei die Ursache der Misere des Südens, sind bloß irreführend, weil die konfligierenden Systemprobleme der armen und reichen Länder nichts mit persönlichem Egoismus von Einzelnen oder einer angeblichen «Ich-Gesellschaft» des Westens zu tun haben. Auch die Unterdrückung oder vielleicht eher nur Nichtbeachtung der von manchen als solche gesehenen Alternativkonzepte sind kein Problem irgendwelcher «Egomanie»,  sondern allenfalls Interessenskonflikte vernetzter Institutionen, Beharrungsmomente innerhalb herrschender Machtverhältnisse von Kollektiven.

Selbst aus psychoanalytischer Perspektive leben wir auch heute alles andere als in einer "Ich-Gesellschaft". Der beinahe anarchische Impetus der 68er ist mehr als abgeflaut (und hat in seiner ganz anderen Form der damaligen chinesischen "Kultur"revolution im "Aufstand" der Jugend gegen den "Muff von tausend Jahren" das ganz andere Gesicht des kollektiven Massenfanatismus als ausgesprochene Anti-Ich-Walze offenbart). Was sich verändert, sind Strukturen und Dynamik der gesellschaftlichen Kollektivgestalten. Die "Ego"-Begriffe, ob dafür oder dagegen gepredigt, leben vom Mediengeschäft, das Träume der Zu-wenig-Ichs anspricht. In der psychotherapeutischen Praxis erweist sich der leichthin so geschimpfte "Tanz um's Ich" als agierte Angst, Scham und psychische Abhängigkeit vom Kollektiv, uralte Gefallsucht, Ruhmsucht, Empfindlichkeiten u. dgl., bei den anderen meine Bedeutung zu sichern, mich im oder gegen den Mainstream präsentierend, auch alles haben zu wollen oder noch mehr als andere, Agitationen angstvoller Abhängigkeiten, schon in den Anfängen meines Lebens zu unbewussten Programmen gestaltet, von gesellschaftlichen Kollektiv-Moden aufgepeitscht.
Bleibt das Kriterium des fehlenden Einfühlungsvermögens. Diese Kälte, Gleichgültigkeit und Empfindungslosigkeit zum Du hat, wo nicht von der vorher angesprochenen Angst verursacht, nichts mit maßloser Sorge um sich zu tun; sie ist nichts als Stumpfheit, Mangelerscheinung - Mangel an "Ich-sein" auch, wenn schon der fragwürdige "Ich"-Begriff bemüht werden soll.

Der scharfdumme Begriff der "Ich-Gesellschaft"

Oxymoron heißt im Griechischen das Scharfdumme, gemeint ist die Zusammenstellung zweier sich widersprechender Begriffe. Aus der einen Perspektive betrachtet gilt, dass keiner Gesellschaft ein so genanntes Ich zukommt. Die andere Perspektive, die Vorstellung eines Zusammenlebens von Persönlichkeiten, die so stark "ich" sind, dass sich ihr Leben nicht im Rädchensein der Kollektivmaschine erschöpft, mag in letzter Konsequenz utopisch sein, aber immerhin eine schöne Richtschnur für lohnenswerte Konzepte unseres Zusammenlebens. Mit seinem Untertitel "Die Krise des westlichen Bewusstsein" reitet Professor Richter nicht nur auf der vor allem auch in seinem Land beliebten Welle der, ach so selbstgerechten, moralischen Selbstzerfleischung und Verunglimpfung der Leistungen des modernen Individualismus, sondern zeigt, dass er die Verantwortung (wenn schon!) des westlich Gebildeten zu differenzierter und besonnener Betrachtung der Dinge vergisst, zugunsten der Applaus versprechenden Parteigängerrolle für eine Opposition, welche der selbstkritischen Denker in den eigenen Reihen auch weiterhin dringend bedürfte. Das billige Schlagwort von der "Krise des westlichen Bewusstseins" vernebelt einige gravierende Probleme der Gegenwart (nebst denen der Wirtschaftsordnung und Umweltzerstörung). Das ist das Überhandnehmen der fundamentalistischen Religionsbewegungen und im gemeinsamen Kampf mit ihnen die Kirchen, welche hoffen, endlich Gehör zu finden in ihrer Brandmarkung dessen, was sie "Individualismus" und "Relativismus" nennen, im gemeinsamen Kampf um die geistige und moralische Versklavung nicht nur ihrer eigenen Schäfchen.

Richter zitiert am Ende seines Buches den französischen Philosophen Emmanuel Lévinas, der den Primat der Ethik mit religiösem Eifer verfochten hat: «Vor dem Anderen ist das Ich unendlich verantwortlich». Diesem alles und Nichts sagenden Satz möchte ich weltlich pragmatisch entgegensetzen: «Vor dem Ich hat sich die Gesellschaft jederzeit zu verantworten.» Denn im Gegensatz zur Hybris der Religionen gegenüber dem Einzelnen soll gelten, dass sie mein Lebensmittel ist, dem Sorge zu tragen sich lohnt, aber um meinetwillen, nicht umgekehrt. Mein Gegen-Satz ist durchaus politisch gemeint, denn es geht um Machkämpfe - und Krieg. Optimismus ist nicht angesagt.

© antonio cho
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