6. Das Heilige ist mein Reich !

Eigner bin ich meiner Gewalt,
 und ich bin es dann, wenn ich mich als Einzigen weiß.

Stirner, 1844

Das Heilige bezeichnete ursprünglich den abgegrenzten Bezirk, welcher der Gottheit angehört und zu ihrem Dienst bestimmt ist. Es ist das ganz Andere, das Unbetretbare (griech.: adyton), welches der profanen Welt zugleich als Erschreckendes, das zurückweichen lässt, und als Faszinierendes, das unwiderstehlich anzieht, erscheint. Die Gottheit ist das Einzige, aus ihr strömt die Welt und in sie strömt sie zurück.

In den überlieferten Religionen steht das Tabu, das Heilige, stets dem gläubigen Einzelnen gegenüber. Es ist der unbetretbare, abgegrenzte Bezirk (lat.: fanus) der geweihten Gemeinschaft. Die Ungeweihten  verbleiben außerhalb, pro-fanus. Das fremde Heilige ist das unergründliche, unnennbare Geheimnis. Das gläubige Volk aber lebt im Profanen, der im Prinzip durchschaubaren Welt des täglichen Lebens. Dazu gehören in der heutigen Gesellschaft, neben Arbeit, Vergnügen, Sport, Wirtschaft und Politik auch wissenschaftliche Forschung und Technik.

Doch drehen wir die Perspektive der Religionen um, so dass die in den Himmel projizierten Werte als Würde des Einzelnen, des Sich-Selbst-Seins erkannt werden, dann wird, in Stirners Diktion gesprochen,  das Heilige mein Eigentum, mehr noch: Das Heilige bin ich. Und über der Pforte zu diesem Heiligtum könnte vielleicht eingemeißelt sein:

Mir ist, vor allem, ein Geheimnis:
mein Gefühl, dass ich ichselbst bin.

Was hat der Forscherdrang bis heute nicht bereits dem Dunkel des Geheimnisvollen entrissen. Aber weder Psychoanalyse, noch Chemie oder Biologie, können je dieses eine Geheimnis entschleiern: mein Gefühl, dass ich ichselbst bin. Wir wissen zwar viel über die Entwicklung des Selbstgefühls beim Kinde und über Umstände, welche sie behindern. Wir therapieren die psychischen Störungen mit ausgeklügelten Methoden. Aber das Geheimnis des Gefühls, dass ich ichselbst bin, bleibt bestehen.

Derart würde das Heilige nicht einfach als Betrug abgetan, sondern wie alles Werten überhaupt, ins Ich, ins Selbst, zurückgenommen. Hier ist das Zentrum der eigenen Wertschöpfung, um welches alles kreist. Psychoanalytisch findet sich hier die emanzipatorisch wichtige Frage der inneren Abgrenzung. Es gibt einen Bereich des Selbstseins, der ist für alle anderen tabu, selbst für das Du in der engsten Beziehung. Das ist die Heiligkeit des Selbst. Nicht in der Erfahrung der Nichtigkeit gegenüber der «ewigen Wahrheit», sondern in der Erfahrung der Einzigartigkeit des Selbstseins erscheint das Heilige in der Doppelung als mysterium tremendum, als das Furchterregende, und als mysterium fascinosum, als das Fesselnde, Anziehende schlechthin. Der innerste Bereich meines Selbstseins bleibt abgegrenzt, sein Bezirk ist heilig, alles außerhalb profan.

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